Zweifelhafte Selbstanzeige

Im Gerichtssaal sind am heutigen Prozesstag zwei Kamerateams und elf Vertreter der schreibenden Zunft anwesend sowie zwischen 15 und 20 Zuschauer.

Antrag der Verteidigung zum Stimmgutachten

Wie schon am letzten Tag vorausgeschickt, stellt Verteidiger Christian L. heute einen bedingten Beweisantrag zum Gutachten der LKA-Experten zur Stimmerkennung. Der Verteidiger beantragt, das Gutachten nicht als Indiz gegen seinen Mandanten zuzulassen. Er begründet dies damit, dass der Zeuge Stefan T. keine Stimme eindeutig als Täterstimme erkannt hat und auch das dementsprechend zu deutende nonverbale Zeichen des Kopfnickens bei Sprecher fünf (Beschuldigter Mario K.) nicht ausreicht. Weiterhin, führt er aus, hätte das Experiment nicht durchgeführt werden dürfen, da die wissenschaftlich nachgewiesene Zeit zwischen Entführer-Opfer-Kommunikation und Experiment nicht länger als sechs Monate sein sollte. Diese Zeit tatsächlich wurde um circa 3 % überschritten.

Zweifelhafte Selbstanzeige

Der Antrag der Verteidigung wird innerhalb von 22 Minuten noch detaillierter vorgetragen. Bei allen Fakten, die die Verteidigung in ihrem Antrag vorträgt, bleibt nach wie vor die Tatsache virulent, dass das Opfer Stefan T. unter sieben Sprechern den Beschuldigten (Sprecher Nummer fünf) als der Stimme des Täters am ähnlichsten herausgefunden hat.

Der Anwalt von Stefan T., Dr. Panos P., teilt nach der Verlesung mit, dass er zu diesem Antrag der Verteidigung eine Erklärung abgeben wird.

Verbote, Behinderungen, Mobbing?

Seit einigen Monaten gibt es immer wieder Äußerungen, auch in den Medien, dass Ermittler der SOKO durch ihren Leiter an ihrer Polizei- und Ermittlungsarbeit gehindert worden sind. Auch von Mobbing war die Rede. Daher erwarten alle Anwesenden mit Spannung die heutigen Zeugen aus genau dieser SOKO; darunter der Beamte, der sich selbst angezeigt hat.

Als erster Zeuge wird Wilmar F., Kriminalhauptkommissar (KHK) der Polizeidirektion Ost in Frankfurt (Oder), vernommen. Die Nettozeit seiner Vernehmung wird 185 Minuten betragen, davon nimmt die Verteidigung 142 Minuten in Anspruch, in denen sie 318 Fragen stellt.

Bei Wilmar F. handelt es sich um einen erfahrenen Kriminalisten der alten Schule. Er war der erste Beamte, der Stefan T. vernommen hat. Er hat auch erste Ermittlungen am Entführungswochenende durchgeführt. Er erzählt, dass Stefan T. bei seiner Vernehmung noch voller Adrenalin war und insofern eine Zeugenaussage kaum möglich gewesen sei. Im Laufe des Tages suchte er mit ihm außerdem noch den Tatort ab. Stefan T. hat ihm die Vorgänge der Entführung sehr genau beschrieben.

Wilmar F. beschreibt die außergewöhnliche Persönlichkeit von Stefan T., von der er glaubt, dass diese ihm das Leben gerettet hat. Insbesondere hat den Kriminaler dessen analytisches Denkvermögen beeindruckt. Auf die Frage des Vorsitzenden Richters, ob er denn glaube, dass die Entführung nur vorgetäuscht sein könnte, verneint dies Wilmar F. vehement. Er hält die Aussagen des Zeugen Stefan T. für glaubwürdig.

Dass er, Wilmar F., schon nach kurzer Zeit durch den Leiter der SOKO von diesem Fall abgelöst worden war, überraschte ihn sehr. Einen möglichen Grund dafür kann er sich kaum vorstellen.

Der Nebenklägervertreter, Dr. Panos P., fragt den Zeugen, ob er es kritisch betrachtet habe, dass das Opfer Stefan T. unmittelbar nach dem Tag seiner Flucht mit seiner Familie eine Auszeit nehmen wollte und zu diesem Zweck eine Reise ins Ausland unternommen hat. Der Zeuge betrachtete dies nicht kritisch, da er vor Abreise mit den Kollegen eine circa vierstündige Vernehmung durchgeführt hat. Somit lagen alle für die weitere Ermittlungsarbeit wichtigen Angaben vor. Zusätzlich war er sich sicher, dass er die Familie auch telefonisch hätte erreichen können. Der Zeuge wird weiter gefragt, ob denn sein Kollege Lutz B. irgendwelche Einwände oder Zweifel an der Aussage des Zeugen Stefan T. hatte. Dies wird verneint.

Auch der Nebenklägervertreter Jakob D. möchte wissen, ob es denn im Kollegenkreis Zweifel zu den Angaben des Opfers Stefan T. gab. Hierauf äußert sich der Zeuge dahingehend, dass es nur allgemeine Äußerungen dazu gab.

Aus dem nun folgenden Fragenmarathon des Verteidigers Axel W. entstehen keine neuen Erkenntnisse. Es interessiert ihn allerdings auch sehr, welche kritischen Stimmen es im Kollegenkreis zu den Aussagen und Ermittlungen im Tatbereich Stefan T. gab. Hierauf lässt der Zeuge Wilmar F. keine Einlassung zu. Er kann sich nur an allgemeine Äußerungen erinnern.

SOKO-Mitarbeiter zeigt sich selbst an – und offenbart grobe Fehler

Zwischen 14:00 Uhr und 16:00 Uhr findet die Vernehmung des Zeugen Lutz B. statt, seines Zeichens Kriminaloberkommissar (KOK). Er wird nach § 55 StPO belehrt. Dieser Zeuge ist interessant, weil er eine Selbstanzeige betreffend seiner Ermittlungsarbeit gestellt hat. Immer wieder wurden Vorwürfe durch ihn gegen die Dienststellenleitung dahingehend geführt, dass er in seiner Ermittlungsarbeit gehindert wurde und Widersprüche in den Aussagen von Stefan T. nicht aufgelöst worden sind.

Insbesondere schien es Lutz B. nicht logisch, dass Stefan T., nachdem ihm bei seiner Entführung die Hände gefesselt wurden, noch einen Pullover angezogen hat. Weiterhin war ihm nicht klar, wie Stefan T. auf der Opfer-Insel mit verbundenen Augen und gefesselten Händen seine Brille in eine Astgabel hängen konnte. Diese Widersprüche durfte er nach Maßgabe seines Dienststellenleiters K. nicht abklären. Auch sollte er hierzu keinen Aktenvermerk schreiben. Dass das Opfer mit seiner Familie, nach eigenen Worten „in Urlaub fahren“ durfte, so unmittelbar nach der Tat, war ihm ebenfalls nicht schlüssig.

Das Opfer Stefan T. war in diesem Fall die einzige echte Beweisquelle, die die Polizei zu diesem frühen Zeitpunkt der Ermittlung, direkt nach der Tat hatte. (Dies hat auch der Verteidiger Axel W. festgestellt.) Aus ermittlungstaktischen Gründen wäre es unklug gewesen, dieser Beweisquelle unmittelbar mit Vorhaltungen und Unterstellungen zu begegnen. Dadurch hätte die Gefahr bestanden, dass das Opfer (und zugleich der Zeuge) dichtmacht und somit die Quelle versiegt.

Das Gericht empfindet es als bemerkenswert, dass der Zeuge Lutz B., nachdem der Kollege Wilmar F. aus der SOKO ausgeschieden war, Opfer-Betreuer von Stefan T. wurde, obwohl er nach seinen Angaben diese kritischen Nachfragen und Bemerkungen hatte.

Da Lutz B. weder einen Vermerk über seine Zweifel geschrieben, noch die Vorgesetzten seines Vorgesetzten informiert hat, kam er nicht weiter. In der Folge besprach er sich sodann mit dem Kollegen Sch. Gemeinsam waren beide dann auch beim Oberstaatsanwalt S., dem sie die Missstände vortrugen. In einem Gespräch mit seinem Vorgesetzten K., am 13. März 2013, wurde Lutz B. dafür derartig gemaßregelt, dass er daraufhin sofort krank wurde.

Hiernach beginnt der Nebenkläger von Stefan T., Dr. Panos P., die Befragung des Zeugen. Es stellt sich heraus, dass insbesondere das Gutachten der Sachverständigen, Frau Dr. G., die Initialzündung für die am 3. August 2013 getätigte Selbstanzeige war. Die Sachverständige wurde wegen eindeutiger Befangenheit vom Gericht abgelehnt, somit ist das Gutachten ohne jedwede Bedeutung. Insbesondere auch, da sie nicht die formalen Voraussetzungen erfüllt hat, solch ein Gutachten zu schreiben. Im weiteren Verlauf wurde sie durch einen Kollegen des LKA diesbezüglich angezeigt. Damit erhielt allerdings auch die Bewertung des SOKO-Leiters, dieses sogenannte Gutachten nicht als Ermittlungsgrundlage einzubringen, eine andere Dimension.

In seiner Strafanzeige listet der Zeuge Lutz B. seine, „erheblichen Widersprüche“ auf. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass es sich bei Lutz B. um einen erfahrenen Kriminalisten handelt.

Lutz B. stellte eine über 20-seitige Anzeige wegen Amtsmissbrauch, Rechtsbeugung, Untreue, Betrugs, Mobbing und Geheimnisverrats. Von Selbstanzeige kann hier keine Rede sein, weil keines der vorgetragenen Delikte gegen ihn gerichtet ist.

Auf die Frage, warum es von ihm vor dieser Anzeige keinerlei Vermerke über seine Zweifel gab, so wie es andere Kollegen gehandhabt haben, gibt er keine Antwort.

Auch hat Lutz B. in seiner heutigen Aussage als zentralen Punkt seiner Widersprüche herausgestellt, dass Stefan T. während seiner Flucht keinerlei Verletzungen erlitten hatte, Erstaunlich findet Dr. Panos P. allerdings, dass dieser Punkt in seiner Anzeige überhaupt nicht angeführt ist.

Der erste Komplex der Selbstanzeige behandelt den Pullover. Hier beschreibt Lutz B.die Aussage des Opfers Stefan T., dass er bei seiner Entführung zum Zeitpunkt des Überfalls in seinem Haus noch seinen Pullover anziehen konnte, obwohl er nach Wahrnehmung von Lutz B. schon gefesselt gewesen war. Dies kann er sich nicht erklären. Dr. Panos P. hält Lutz B. die Aussage von Stefan T. vor, in der dieser sagt, er wüsste nicht genau, wann er seinen Pullover angezogen hat. Weiterhin wird auch die Aussage von Ehefrau Sabine T. wiedergegeben. Diese berichtete, dass Stefan T. den blauen Pullover anziehen durfte, nachdem er den Täter danach gefragt hat und noch nicht gefesselt war. Diese Aussage von Sabine T., so räumt der Zeuge Lutz B. ein, hat er in seiner Selbstanzeige und in der Widerspruchsäußerung nicht berücksichtigt.

Der zweite Komplex der Anzeige betrifft die Leibesvisite durch den Täter. Das Opfer Stefan T. hat ausgesagt, dass er durch den Täter nach Ortungsgeräten am oder im Körper abgesucht wurde. Diese Aussage zweifelt Lutz B. an, da er nicht glaubt, dass ein Täter nach Ortungsgeräten fragt. Dies vor allem auch deshalb, weil der Überfall ja überraschend kam. Dass der Täter im Gespräch mit Stefan T. selbst geäußert hat, dass er das Objekt schon mehrere Monate ausgespäht hatte, findet hier ebenfalls keine Berücksichtigung.

Ein dritter Komplex behandelt das Thema Brille. Lutz B. führt in seiner Strafanzeige aus, dass man eine Brille mit verbundenen Augen und gefesselten Händen nicht in eine Astgabel hängen kann. Dass das Opfer Stefan T. die Brille vom Täter erhalten hat, um die entsprechenden Lösegeldbriefe zu schreiben, dass dazu seine Hände entfesselt sowie die Augenbinde abgenommen wurden, hat Lutz B. nicht wahrgenommen. Diesbezüglich gibt Lutz B. sogar an, dass es Videoaufnahmen der Vernehmungen von Stefan T. gibt, in denen dieser etwas anderes sagt, als bei der schriftlichen Vernehmung, die von seinem Kollegen Wilmar F. durchgeführt worden ist. Daraufhin zitiert Dr. Panos P. aus den schriftlichen Protokollen zu diesen Videoaufnahmen und es wird deutlich, dass beide Aussagen tatsächlich identisch sind. Lutz B. räumt nun ein, dass es keinen Widerspruch mehr gibt.

Zum vierten Komplex „Pinkeln“ hat Lutz B. in seiner Strafanzeige geschrieben, dass ihm Stefan T. in einem Flurgespräch mitgeteilt hat, dass er nach der Selbstbefreiung das erste Mal richtig gepinkelt hat. Lutz B. erklärt, dass er sich das nicht vorstellen konnte. Auch in diesem Fall beweist der Nebenklägervertreter dem Zeugen, dass die niedergeschriebenen Aussagen etwas anderes sagen.

Nachdem nun vier wesentliche Widerspruchskomplexe durch Dr. Panos P. widerlegt worden sind, äußert dieser seine Verwunderung, dass Lutz B. seine Strafanzeige ohne genaue Kenntnis der Vernehmungsakten gestellt, beziehungsweise deren Inhalt nicht hinreichend berücksichtigt hat. Weiterhin hat Lutz B. in der Zeit zwischen dem Tattag, am 5. Oktober 2012, und der Aufgabe der Strafanzeige, am 3. August 2013, keinerlei Vermerke zu seinen Zweifeln schriftlich niedergelegt. Zu diesem Widerspruch werden dem Zeugen durch Dr. Panos P. weit über 100 Fragen gestellt. Viele der Antworten des Zeugen kommen zögernd und leise, einige überhaupt nicht.

Hiernach stellt der Nebenklägervertreter Jakob D. noch ein paar Fragen. Insbesondere geht es ihm darum, ob Lutz B. Zweifel an der Tat hatte. Dieses beantwortet Lutz B. mit einem klaren Nein, er hätte nur ein paar Nachfragen stellen wollen.

Daraufhin wird ihm von Jacob D. aus seiner Strafanzeige zitiert, dass er die Tat anzweifelt. Er bezichtigte Stefan T. sogar einer möglichen Mittäterschaft oder einer möglichen Beseitigung eines Mittäters. Weiterhin beklagte er in seiner Strafanzeige, dass das Opfer und der Zeuge Stefan T. durch die Polizei über den Ermittlungsstand informiert war. Auf die Frage, ob er denn einen konkreten Hinweis auf einen Mittäter vorlegen könne, gibt es nur ein zögerliches Nein.

Am Ende des Tages kann festgehalten werden, dass die Frage, ob die Ermittlungsarbeiten durch die Leitung der Dienststelle erheblich eingeschränkt oder sogar behindert und verboten wurden, nicht positiv beantwortet werden kann. Mehr noch: Nach dem Vortragen unterschiedlicher Vernehmungsaussagen räumt der Zeuge Lutz B. ein, dass es keine Widersprüche gibt.

Warum sich ein so erfahrener Kriminalist dazu hinreißen lässt, eine 20-seitige Strafanzeige aufzugeben und damit auch noch in die Öffentlichkeit geht, wird wohl das Geheimnis von Lutz B. bleiben, sofern es nicht bei seiner weiteren Vernehmung am 18. Dezember 2014 herausgearbeitet werden kann.

Bildquelle: Gerhard Frassa / pixelio.de

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