Lübcke-Prozess: 6. Verhandlungstag

27. Juli 2020, Beginn 11:15 Uhr

Gemäß Vorabinformationen der Pressesprecherin wurde mir mitgeteilt, dass heute ausschließlich Urkunden verlesen werden sollen. Bei diesen Urkunden handelt es sich um Briefe, Schul- und Arbeitszeugnisse, Beurteilungen, Lehrgangsbescheinigungen, etc. Das ist in der Regel eher langweilig und bietet wenig Informationsinhalt. Daher war das heutige Interesse von Medienvertretern und Zuschauern eher gering.

Anmerkung: Erlebt haben wir heute etwas ganz anderes. Ein regelrechter „Showdown“ hat stattgefunden. Der Verteidiger von Stephan Ernst, Herrn Frank Hannig, gegen den Vorsitzenden Richter Thomas Sagebiel, sowie gegen seinen Co-Verteidiger Kollege Mustafa Kaplan.

Beide Angeklagten werden nacheinander im Minutenabstand in den Saal geführt. Stephan Ernst trägt ein weißes T-Shirt unter seinem weißen Hemd und wirkt sehr nachdenklich. Seine Gesichtsfarbe ist blass. Bei Markus H. ist alles wie immer. Mit Beginn der Verhandlung teilt der Vorsitzende Richter mit, dass durch den Rechtsanwalt Frank Hannig fünf Anträge eingereicht worden sind. Es handelt sich um Beweis-Ermittlungsanträge. Die Anträge beinhalten z.B. einen Einbruch in Kassel, bei dem Akten gestohlen wurden. Der Rechtsanwalt möchte wissen, ob es sich bei diesen Akten um Firmenakten der Familie Lübcke gehandelt hat. Weiterhin geht es um die Beschaffung der Tatwaffe und um eine Auswertung der Funkzellen (24 Stunden vor und 24 Stunden nach der Tat) am Tatort. Des Weiteren möchte er einen Zeugen C. vorladen lassen, damit dieser über das Verhältnis zwischen den beiden Angeklagten Ernst und H. aussagen kann. Der Vorsitzende Richter teilt mit, dass er nahezu sprachlos ist, weil er die Anträge für „gequirlten Unsinn“ hält; da keiner dieser Anträge Aussicht auf Erfolg hat und diese nicht korrekt eingereicht wurden. Der Vorsitzende Richter hält in Bezug auf die Verteidigung von Stephan Ernst die anwaltschaftliche Vertretung durch Frank Hannig für nicht tauglich. Im Gerichtssaal herrscht allgemeine Aufregung. Der Oberstaatsanwalt Dieter Killmer ist verwundert, dass der Angeklagte Stephan Ernst nichts von den Anträgen wusste, obwohl sie in seinem Namen gestellt wurden. Der Nebenkläger Vertreter der Familie Lübke, Prof. Dr. Matt, hält sie insgesamt für untauglich. Mustafa Kaplan erklärt, dass er und der Angeklagte Stephan Ernst sich von diesen Anträgen deutlich distanzieren. Weiter teilt er mit, dass Stephan Ernst keinerlei Interesse hat, die Familie Lübke durch diese Anträge in irgendeiner Art und Weise zu beschmutzen. Nach diesem „Showdown“ unterbricht das Gericht für eine Pause.

Anmerkung: Mustafa Kaplan ist verärgert und spricht mit ausgestrecktem Finger auf Frank Hannig ein. Sie verlassen den Saal, sind aber relativ schnell wieder zurück. Mustafa Kaplan ist immer noch verärgert. Er bezeichnet das Verhalten von Frank Hannig mehrfach als beschämend. Beide Verteidiger reden intensiv auf Stephan Ernst ein. Beide sind unterschiedlicher Meinung. Wie kann Stephan Ernst jetzt wissen, welcher Rat für ihn der bessere ist. Frank Hannig versucht Stepfan Ernst zu überreden. Die Verteidiger von Markus H. sind auch einigermaßen angetan von dem Verhalten von Frank Hannig. Sicher werden sie versuchen hieraus ihren Vorteil zu ziehen.

Um 12:12 Uhr ist die Pause beendet. Frank Hannig meldet sich zu Wort und teilt mit, dass er die Anträge komplett zurückzieht. Zusätzlich teilt er mit, dass sowohl der Angeklagte und auch der zweite Verteidiger über die Anträge informiert waren. Mustafa Kaplan beantragt, dass sein Co-Verteidiger Frank Hannig als Pflichtverteidiger für Stephan Ernst entpflichtet wird. Stephan Ernst ist mit dieser Strategie nicht einverstanden. Dadurch, dass Frank Hannig diese Anträge ohne sein Wissen gestellt hat, ist das Vertrauensverhältnis auf Dauer gestört. Frank Hannig beantragt daraufhin den Abberufungsantrag von Mustafa Kaplan abzulehnen, da es keine Gründe dafür gibt. Der Vorsitzende Richter fragt Stephan Ernst direkt, ob dieser weiterhin Frank Hannig als Verteidiger haben möchte? Dieser verneint und folgt damit dem Entpflichtungsantrag seines Verteidigers Mustafa Kaplan. Die Anwältin Nicole Schneiders stellt den Antrag einen bestimmten YouTube-Film von und über Frank Hannig in den Prozess einzuführen und anzuschauen. In diesem Film sei zu sehen und zu hören in welcher Art und Weise Frank Hannig die Verteidigung von Stephan Ernst gefährdet. Dr. Björn Clemens stellt den Antrag auf eine Unterbrechung. Dieser wird unverzüglich abgelehnt. Weiterhin gibt die Verteidigerin Nicole Schneiders eine Erklärung zur Videovernehmung von Stephan Ernst ab. Sie beklagt, dass sich der Verteidiger Frank Hannig über Gebühr in die Vernehmung und die Antworten von Stephan Ernst eingemischt hat. Dadurch hat er die Vernehmung behindert. Stephan Ernst hat einen Hang zur Unwahrheit. Auch wird der Vermutung nachgegangen, dass ihr Mandant Marcus H. ein V-Mann sein soll. Oberstaatsanwalt Killmer teilt mit, dass er die Entpflichtung des Verteidigers Frank Hannig befürwortet.

Anmerkung: Frank Hannig wird hier gerade demontiert. Es wird darauf hinauslaufen, dass er tatsächlich seines Amtes und seiner Verteidigung enthoben wird. Dies ist ein schwerwiegender Eingriff und für ihn auch blamabel. Ich frage mich, ob er wirklich so blauäugig war, dass er nicht erkannt hat, dass seine Anträge - ohne die vorherige Ab- und Zustimmung seines Mandanten und des Co-Verteidigers zu dem Ergebnis der Entpflichtung führen muss. Oder hat er das alles aus unbekannten Gründen mit Absicht inszeniert?

Erst jetzt kommen wir zu dem eigentlichen Tagesordnungspunkt dieses Verhandlungstages. Es werden Urkunden verlesen. Als erstes wird der Lebenslauf bekannt gegeben. Danach gibt es Angaben zu Schule und Ausbildung (Maurer) und Arbeitsverhältnissen. Es werden Bewerbungsschreiben, Arbeitszeugnisse, etc. vorgelesen.

Anmerkung: Die Corona-Plexiglas-Trennungsscheiben zwischen den einzelnen Parteizugehörigen wirken aus meiner Sitz-Position wie kleine Käfige. Stephan Ernst sitzt grundsätzlich zwischen Frank Hannig (links) und Mustafa Kaplan (rechts). Nun ist er ganz nach rechts gerückt. Das bedeutet, er ist nur 30 cm von seinem Verteidiger Mustafa Kaplan entfernt aber über 2 Meter von Frank Hannig.

Während der Verlesung der Urkunden zeigt Frank Hannig dem Angeklagten Stephan Ernst einen Chat-Verlauf auf WhatsApp und spricht auf ihn ein. Richter Dr. Köhler bemerkt das und teilt den Sachverhalt dem Vorsitzenden Richter mit. Dieser schreitet zunächst nicht ein.

Anmerkung: Im späteren Verlauf ermahnt der Vorsitzende Richter alle Verteidiger, sich doch bitte auf die Verlesung zu konzentrieren und auf interne Unterhaltungen zu verzichten.

Nach der Mittagspause wird Mustafa Kaplan vom Richter vorsorglich gefragt, ob er einen möglichen Pflichtverteidiger zur Übernahme kenne. Dieser bestätigt das. Stephan Ernst lässt über ihn bekannt geben, dass er alle Vollmachten gegenüber Frank Hannig entbunden wissen möchte. Von seiner Schweigepflicht entbindet er ihn ausdrücklich nicht. Frank Hannig möchte noch einen Schriftsatz betreffend seiner Abberufung einreichen. Dieser Schriftsatz wird zugelassen. Nicole Schneiders beantragt, dass Angaben aus dem Selbstleserverfahren auch der Öffentlichkeit bekannt gegeben werden sollen. Den Antrag von Frau Schneiders, ein YouTube-Video von und über Frank Hannig in den Prozess einzuführen, nimmt das Gericht an. In diesem Video äußert sich Frank Hannig über den letzten Verhandlungstag. Seine Äußerungen sind nicht immer moderat.

Verhandlungsende: 13:10 Uhr.

Bildquelle: Jan Huebner/ Pool; Bericht: Stefan Bisanz

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