Erster Verhandlungstag | Verlesung der Anklage

Der erste Verhandlungstag am 26. Oktober im Landgericht Aurich beginnt verspätet um 10:37 Uhr. Die Verspätung ergab sich unter ominösen Gründen durch Krankmeldung der vorgesehenen Schöffin. Es sind drei Kamerateams, fünf Fotografen und circa zehn Pressevertreter vor Ort. Außerdem sind nur fünf weitere Zuschauer anwesend.

Angeklagt sind fünf Täter wobei das Verfahren gegen den Haupttäter, den 67-jährigen Michael K. aus Iserlohn, abgetrennt wurde, da dieser für unbestimmte Zeit erkrankt ist. Seine ebenfalls angeklagte 90-jährige Mutter Magdalena K., auch aus Iserlohn, hingegen ist im Gerichtssaal anwesend.

Erster Verhandlungstag | Verlesung der Anklage

Nach persönlichen Angaben befragt, teilt Sie mit, dass sie seit 1960 verwitwet ist, drei Kinder hat, ihr jüngstes Kind jedoch bereits verstorben ist. Sie hat Betriebswirtschaft studiert , ist nun Rentnerin und hat keine Schulden.

Magdalena K. ist eine Dame, sehr gepflegt, sehr klein und hat weißes Haar. Ihre Kleidung ist durchaus hochwertig. Sie ist dezent geschminkt hat drei Goldringe an ihren Fingern. Ihre Augen sind wach und sie macht einen gelassenen Eindruck.

Drei weitere anwesende Angeklagte sind alle polnische Staatsbürger und daher sind auch in Begleitung je eines Dolmetschers. Der erste von ihnen ist Thomas B., geboren am 31. März 1976 in Polen, Vater zweier Kinder und verheiratet ist Klempner von Beruf und Hausmeister auf 450-Euro-Basis. Seine Schulden beim Finanzamt betragen 160.000 Euro, die während seiner Selbstständigkeit entstanden sind. Er ist am 13. Mai 2016 festgenommen worden und seitdem in Haft. Der nächste Angeklagte Jan I., geboren am 20. Juni 1977 in Leczyca, ist ledig und hat fünf Kinder. Er gibt an, nie gearbeitet zu haben und seit einem Verkehrsunfall 1998 von einer Rente in Höhe von monatlich 120 Euro zu leben.

Er wurde am 29. April 2016 festgenommen und seitdem in Haft. Er macht einen sehr nervösen Eindruck und hat einen weinerlichen Blick. Er ist dick und trägt einen Vollbart. Er betritt den Saal auf Krücken oder fährt mit dem Rollstuhl.

Der dritte dieser Riege ist Piotre M.. Er wurde am 4. Januar 1975 in Polen geboren, ist ledig und hat zwei Kinder. Seine derzeitige Partnerin ist schwanger. Er hat den Beruf eines Tischlers gelernt und hat zuletzt vor zwei Jahren gearbeitet. Seitdem hält er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, zum Beispiel als Helfer bei Umzügen. So verdient er im Monat circa 600 bis 1000 Euro. Zu seinen Schulden macht er keine näheren Angaben. Er ist am 13. Mai 2016 festgenommen worden und seitdem in Haft.

Nach diesen notwendigen Formalien, die der Richter entsprechend durchgeführt hat, erteilt er dem Staatsanwalt das Wort. Dieser verliest nun die Anklage.

Angeklagt wird Piotre M. wegen erpresserischen Menschenraubs, Körperverletzung und Nötigung in unterschiedlicher Tatbeteiligung. Auch wird die Anklage gegen den Haupttäter Michael K. vorgelesen. Doch die Besonderheit in diesem Entführungsfall ist zweifelsohne die Tatbeteiligung der 90-jährigen Magdalena K. Sie wiederum wird wegen Beihilfe angeklagt.
Das Opfer ist der 60-jährige Reeder und Geschäftsmann aus Leer, Heiko L. Michael K. hat mit dem Opfer verschiedentlich Geschäfte durchgeführt. Aus einem letzten Geschäft in Saudi-Arabien hatte er einen Verlust von 400.000 Euro, die das Opfer Heiko L. nicht erstatten wollte. Da diese Geschäfte oftmals nicht dem normalen Rechtsverkehr entsprachen, konnte Michael K. seinen Verlust auch nicht auf dem Rechtswege durchsetzen. Daher entschloss er sich, das Opfer durch Gespräche einzuschüchtern. Dies hatte jedoch keinen Erfolg. Da Michael K. zu Thomas B. schon länger Kontakt hatte, beauftragte er ihn, weitere Männer für eine Entführung ausfindig zu machen und dann ein entsprechendes Lösegeld zu erpressen.

Die Besprechungen und Anstiftungen zu dieser Tat wurden zwischen Michael K. und Thomas B. in einem Fast-Food-Restaurant in Dortmund durchgeführt und geplant. Dabei wurde schnell ein Abgreif-Ort zwischen der Wohnung und der Arbeitsstätte des Opfers gefunden. Des Weiteren hatten zwei Angeklagte die Aufgabe, eine entsprechende Unterbringung in einem Ferienhaus zu beschaffen. Dieses taten sie sehr professionell, indem sie mehrere Möglichkeiten ausgetestet haben.

Zum Vortat-Verhalten ist zu hören, dass die Gewohnheiten des Opfers sehr ausführlich ausgekundschaftet worden sind. Hierzu hat sich das Team der Täter mehrere Monate Zeit genommen, insbesondere im März und April 2016. Die Observation wurden vor allem am Wohnort und an der Arbeitsstelle durchgeführt, auch mit einer Standkamera. Die Entführung wurde unter dem Vorwand einer Polizeikontrolle durchgeführt. Man besorgte sich Polizei-Uniformen und eine Anhaltekelle.

Hier ist der Tätertyp unter der Kategorie „persönlicher Feind“ einzugruppieren, da Täter und Opfer Geschäftspartner waren und der Täter somit über Insider Kenntnisse verfügte.

Des Weiteren wurden zwei weitere Täter aus Polen hinzugezogen, die ausschließlich in der Einführungsphase eingesetzt wurden. Auch Magdalena K. wurde eingeweiht. Sie unterstützte ihren Sohn aktiv, indem sie unter anderem eines ihrer Konten bei der Märkischen Bank zur Verfügung stellte. Dann wurde am 15. April eine Ferienwohnung in Hatzum, Hatzumer Weg 1 und 1a, angemietet.

Am 19. April morgens wurde die Entführung durchgeführt. Ein Täter begab sich dazu zur Wohnung des Opfers, um die Abfahrt desselben zu melden. Das Opfer fuhr wie immer mit seinem VW Phaeton die bereits observierte Fahrstrecke zum Büro. Die Täter fuhren mit erhöhtem Tempo an dem Opfer-Fahrzeug vorbei und hielten auf der Beifahrerseite eine Polizeikelle aus dem Fenster, sodass das Opfer annahm, anhalten zu müssen, da die Polizei ihn kontrollieren wollte.

Es stiegen zwei der Täter in Polizeiuniform aus und überwältigten unmittelbar das Opfer. Dieses wurde nach Ortungsmöglichkeiten am Körper durchsucht, und zwar komplett, auch wurden ihm alle persönlichen Gegenstände abgenommen, unter anderem 1000 Euro Bargeld. Dann bekam das Opfer, um keine Orientierung zu haben, eine undurchsichtige Sonnenbrille aufgesetzt.

Eine erste Lösegeldforderung wurde vom Opfer unmittelbar abgelehnt. Erst, als er mit Faustschlägen und Ohrfeigen geschlagen worden ist und einer der Täter ihm sogar ein Ohr abschneiden wollte, wurde das Opfer gefügig und unterschrieb einen Schuldschein über eine Million Euro. Außerdem informierte er seinen Geschäftsführer Markus M., damit dieser eine weitere Million Euro auf das Konto der Magdalena K überweist. In diesem Gespräch teilte er seinem Geschäftsführer ebenfalls mit, dass er noch weitere Tage abwesend sein wird. Doch Markus M. ging nach diesem Gespräch von einer Entführung aus. Die Polizei informierte er allerdings nicht.

Da bei der Übermittlung der Kontonummer etwas schief lief, kam das Geld nicht auf dem Konto an. Magdalena K stachelte ihren Sohn Michael K. weiter an mit Worten wie „die nehmen dich nicht ernst“.

Und so wurde der Geschäftsführer Markus M. durch die beiden wiederholt angerufen. Es wurde dabei auch mit dem Tod des Opfers gedroht. Nach der Richtigstellung der Kontonummer wurde das Geld dann überwiesen. Markus M. schickte ein Foto der Überweisungsbestätigung per SMS an die Täter. Hierauf bereiteten sich die Täter unmittelbar und zügig für die weitere Flucht vor. Die Wohnung wurde gesäubert. Das Opfer musste erheblich viel Whisky trinken und wurde danach in der Nähe der Bundesautobahn 31 – Kilometer 197,6 – freigelassen.

Die Polen sollten 400.000 Euro von der Million erhalten. Der Rest sollte an an Michael K. gehen. Magdalena K. unterstützte den aufwendigen Lebensstil ihres Sohnes und war daher daran interessiert, dass dieses Verbrechen tatsächlich gelingen sollte.

Da die Freilassung des Opfers so schnell durchgeführt wurde und das Opfer zeitnah die Polizei informieren konnte, war die Überweisung noch nicht auf dem Konto des Täters angekommen. Daraufhin wandten sich Thomas B. und Piotre M. nochmals an das Opfer und drohten mit einer erneuten Entführung wenn sie nicht 100.000 Euro bekommen würden. Dieses Geld hatte das Opfer den beiden während seiner Gefangenschaft versprochen, wenn sie ihn freilassen würden. Für die Übergabe der 100.000 Euro hatten sich die Täter schließlich in das Firmengelände begeben. Da das Opfer jedoch nicht anwesend war, hatten sie eine Mobilnummer hinterlegt. Das Opfer ging scheinbar darauf ein, kontaktierte die Täter und vereinbarte mit ihnen eine Geldübergabe in Dortmund. Bei dieser scheinbaren Übergabe wurden die Täter durch die Polizei vor Ort festgenommen.

Nach Verlesung der Anklageschrift befragt der Vorsitzende Richter jeden einzelnen Angeklagten, ob sie sich zur Sache äußern wollen. Dieses wird durch alle vier am Tage abgelehnt. Zwei der Angeklagten beabsichtigen, vielleicht an einem späteren Verhandlungstag etwas zur Sache auszusagen. Magdalena K. beantragt, dass sie aus diesem Verfahren herausgenommen wird und zusammen mit ihrem Sohn verhandelt wird. Dies lehnt der Staatsanwalt ab. Der Rechtsanwalt der Mutter hält diesen Antrag trotzdem aufrecht.

Damit ist der erste Verhandlungstag heute um 11:43 Uhr beendet.


Bildmotiv: Eingang zum Landgericht Aurich im Schloss Aurich.

Bildquelle: Stefan Bisanz

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