Sachverständiger Professor sorgt für erhebliche Verwirrung

Am 46. Verhandlungstag, 12. Februar 2015, waren im Zuschauerraum circa 15 Zuschauer und zehn Medienvertreter anwesend.

Bevor der erste Zeuge aufgerufen wird, gibt die Kammer bekannt, dass sie nach der Aussage des Kriminaldirektors K. nicht mehr in Betracht zieht, den sogenannten Prozessbeobachter der Polizei, Candy Sch., als Zeugen zu vernehmen. Zum Hintergrund: Die Verteidigung des Beschuldigten hat versucht, Candy Sch. aus dem Zuschauerraum zu verbannen, indem man ihn zu einer Vernehmung bestellen wollte. Doch nachdem keine der anwesenden Parteien einen Beweisantrag zur Vernehmung des Zeugen gestellt hat, ordnet das Gericht nun an, dass der Polizeibeobachter wieder als Zuschauer am Prozess teilnehmen darf.

Um 10:05 Uhr wird der erste und einzige Zeuge des heutigen Verhandlungstages aufgerufen. Es ist der Sachverständige Prof. Dr. Bodo P., Facharzt für Orthopädie aus Berlin. Er hatte die Aufgabe, den Beschuldigten Mario K. an seinem durch einen Schuss verletzten Knie zu untersuchen. Durch diese Schussverletzung hat Mario K. eine Arthrose in rechten Knie. Die Verteidigung stellte hierzu folgenden Beweisantrag, zu dem der Sachverständige dann Stellung nimmt.

Sachverständiger Professor sorgt für erhebliche Verwirrung

Erstens kann der Beschuldigte einen gewissen Weg auf dem Grundstück der Familie P. zurücklegen. Zweitens kann Mario K. ebenfalls einen Weg im Sumpfgelände zügig hinter sich bringen.

Prof. Dr. Bodo P. gibt zunächst grundsätzliche Einblicke zum Thema Arthrose. Schließlich beschreibt er, dass der Beschuldigte Mario K. bei seiner Untersuchung nicht abspringen konnte; die Kraft im rechten Bein ist durch einen geringeren Muskelumfang eingeschränkt. Auch für den Aufsprung ist die verminderte Muskulatur in der Wade störend. Allerdings wurde seine Arthrose mustergültig behandelt. Seine Oberschenkelmuskulatur ist mithin so stark, dass sie die Leistungsminderung durch die Arthrose kompensiert. Auch sein Gang ist normal und uneingeschränkt. Die Beinverkürzung von circa einem Zentimeter durch die frühere Schussverletzung spielt für das Gangbild keine Rolle. Er hat keinerlei Schmerzen oder Einschränkungen im Knie, auch auf unebenen Böden kann er schnelle Schritte gehen. Dies wird ebenfalls durch seine sehr ausgeprägte Oberschenkelmuskulatur ermöglicht.

Auch Stefan T. sagte aus, dass er bei einem kurzen Blick von hinten auf den Täter eine sehr ausgeprägte Oberschenkelmuskulatur gesehen hat.

Zusammenfassend erklärt der Sachverständige, dass die rechte Unterschenkelmuskulatur eingeschränkt ist. Diese Einschränkung wurde jedoch durch anderes Gewebe kompensiert.

Es ist sicherlich schwer, den heutigen Zustand der Muskulatur mit dem jeweiligen Zustand der Muskulatur zu den Tatzeiten in den Jahren 2011 und 2012 zu vergleichen. Insbesondere gibt es keine Kenntnis darüber, wie sehr die Muskeln bis zum heutigen Tage trainiert worden sind. Auch ein einseitiges Beintraining würde die Fakten verfälschen.

Damit der Sachverständige eine noch etwas differenziertere Aussage machen kann, wird Petra P. durch das Gericht in den Zeugenstand gerufen. Sie soll den Gang des Täters beschreiben. Hierzu führt Petra P. den Tätergang praktisch vor.

Der Beschuldigte Mario K., der bis zu diesem Zeitpunkt dem Geschehen im Gericht gefolgt ist, schaut sich diesen praktischen Vorgang von Petra P. nicht an. Er starrt auf die Tischplatte vor sich und schreibt hin und wieder etwas. Wie im bisherigen Prozessverlauf bereits mehrfach gesehen, kann er die Zeugin einfach nicht anschauen.

Der Sachverständige Prof. Dr. Bodo P. aus Berlin teilt daraufhin mit, dass die Aussage und die Vorführung von Petra P. seine gutachterliche Einschätzung noch unterstützt, da durch das „Tänzeln“ oder „Skaten“ sogar das rechte Bein noch entlastet werden kann. Um die genaue Kraftaufwendung des Muskels beim Beschuldigten Mario K. zu bestimmen, rät der Sachverständige dringend zu einer weiteren neurophysiologischen (Funktion des Nervensystems und der Muskulatur) Untersuchung. So wie Petra P. den Gang des Täters beschrieben hat, ist dies dem Beschuldigten Mario K. sicher möglich.

Die Staatsanwaltschaft möchte nun wissen, ob Mario K. rennen könne. Dies wird mit einem klaren „Ja“ beantwortet. Betrachtet man lediglich den Muskelaufbau, so ist Mario K. sogar ein Modellathlet. „Skaten“, also Laufen im Schlittschuhschritt, ist für Mario K. eine Alternative zum Rennen.

Für eine gutachterliche Stellungnahme ist es enorm wichtig, sich ganz genau an den gestellten Auftrag (hier der Beweisantrag des Verteidigers Axel W.) zu halten. Dieser Beweisantrag und die genaue Formulierung daraus sind die einzige Grundlage und die jeweilige Eingrenzung der Aussagekraft und Tätigkeit des Sachverständigen. Hieran hat sich jeder Sachverständige genauestens zu halten.

Der Nebenklägervertreter, Dr. Jakob D., stellt nochmals fest, dass beide Fragen des Beweisantrages von Axel W. damit beantwortet sind. Dieses bestätigt der Sachverständige.

Weiterhin wird nun festgestellt, dass der Beschuldigte Mario K. am 20. Februar 2012 wegen Knieschmerzen nach einem Tennisspiel bei einer Ärztin vorstellig war. Der Sachverständige sagt hierzu aus, dass er den Beschuldigten so einschätzt, dass dieser womöglich sehr interessiert daran gewesen war, körperlich aktiv zu sein und deswegen auch nicht davor Halt machte, Tennis zu spielen – eine Sportart, die Arthrosepatienten grundsätzlich nicht empfohlen wird.

Das Gericht fragt noch nach dem Zustand der Muskulatur des Beschuldigten zu den Tatzeiten 2011 und 2012. Doch hierzu kann der Sachverständige keine Angaben machen, da es aus diesem Zeitraum kaum Daten gibt.

Jetzt beginnt der Verteidiger Axel W., den Zeugen zu vernehmen. Er möchte wissen, ob beide Beine untersucht worden sind, was durch den Sachverständigen bestätigt wird. Axel W. stellt fest, dass das sogenannte „Skaten“, wie es Petra P. demonstriert hat, nichts mit einem alpinen Skaten zu tun hat.

Kann sich denn der Beschuldigte in jeglicher Situation auf sein Knie verlassen? Auch diese Frage wird mit einem klaren „Ja“ durch den Sachverständigen beantwortet, es gäbe keinerlei Anzeichen einer Instabilität. Prof. Dr. Bodo P. unterstreicht nochmals, dass Mario K. durch einen Sumpf gehen kann. Selbst schweres Gelände könnte Mario K. gut durchqueren.

Mit diesen klaren Aussagen, die der Verteidigung eher schaden als nutzen, hat Axel W. nicht gerechnet. Das Erstaunen ist ihm ins Gesicht geschrieben. Nun beantragt Axel W., dass der Sachverständige sich das Video der polizeilichen Rekonstruktion des Weges, den das Opfer Stefan T. vom Ablageort zum Knüppeldamm zurückgelegt hat, anschaut. Axel W. ist der Meinung, dass der Sachverständige im Video die genaue Beschaffenheit des Sumpfes vor Ort erkennen sollte. Nach der Wiedergabe des Videos möchte er eine neue Stellungnahme vom Sachverständigen haben.

Mit diesem Antrag, der durch das Gericht genehmigt wird, beginnt ein Zeugenaussageverlauf, der im Allgemeinen und auch im Speziellen zu erheblichen Verwirrungen führt. Der grundsätzliche Fehler ist – das sei hier vorweg genommen –, dass sich der Sachverständige auf diese Ansicht des Videos mit einer erneuten Stellungnahme einlässt. Denn der gutachterliche Auftrag, der wie oben beschrieben durch einen Beweisantrag gestellt wurde, ist bereits hinreichend beantwortet worden! Es ist also die oberste Pflicht eines Sachverständigen, sich weiterhin an diesen Auftrag zu halten, er darf ihn nicht eigenmächtig erweitern. Doch leider lässt sich Prof. Dr. Bodo P. genau darauf ein. Bisher hatte er als Sachverständiger einen sehr kompetenten und souveränen  Eindruck hinterlassen. Dies wird sich im Laufe des Nachmittages ändern.

Das Gericht hatte angeordnet, dass der Sachverständige sich die polizeiliche Rekonstruktion anschauen sollte, was auf einem Laptop der Verteidigung in der Mittagspause geschah. Zusätzlich – und ohne gerichtlichen Auftrag! – hat die Verteidigung die Gelegenheit genutzt, dem Sachverständigen die Videoaufnahmen ihrer eigenen Rekonstruktion zu zeigen. Natürlich ist hierauf zu sehen, dass der Verteidiger Christian L. in einem Sumpfloch einbricht.

Nach Ansicht der Videos führt der Verteidiger Axel W. seine Vernehmung des gutachterlichen Zeugen fort. Er fordert den Sachverständigen auf, dem Gericht seine Eindrücke aus dem Video mitzuteilen. Der Sachverständige teilte nun mit, dass sich ein Patient, der an Arthrose erkrankt ist, dieses Sumpfgelände nicht freiwillig aussuchen würde.

Genau das hat der Täter auch nicht getan! Denn exakt diesen Weg, den der Sachverständige auf dem Video gesehen hat, ist er nicht gegangen und wollte diesen auch nie gehen. Der Täter ist dieses Sumpfgelände von der Wasserseite her angegangen. Von der Wasserkante bis zum Ablageplatz waren es knapp zehn Meter. Der Weg des Opfers Stefan T. vom Ablageort bis zum Knüppeldamm betrug ein Mehrfaches. Als der Täter sich bei Verbringung des Opfers Stefan T. an den Ablageort verlaufen hat, und somit die Strecke länger als zehn Meter wurde, war er es, der lauthals darüber geflucht hat, und nicht das Opfer. Auch bei der Verfolgung des Opfers bei dessen Flucht konnte der Täter dem Opfer trotz Taschenlampe nicht folgen und brach somit die Verfolgung ab. Beide Punkte sprechen dafür, dass sich der Täter dieses Gelände zwar ausgesucht hat, dies aber nicht tat, um es zu durchschreiten, sondern um unentdeckt zu bleiben.

Der Nebenklägervertreter Dr. Jakob D. wirft ein, dass Mario K. bereits 2004 in gleicher Sumpfumgebung gelebt hat, zu diesem Zeitpunkt hatte er die Arthrose aber schon. Er hatte hier sein Lager aufgeschlagen, was rundherum von Wasser und schwer begehbarem Sumpfgelände umgeben war, und beging von hier aus seine Verbrechen.

Der Sachverständige teilt mit, dass er die Situation des Jahres 2004 nicht berücksichtigt hat und dies auch nicht tun möchte. Er stellt wiederum fest, dass das Gelände, in dem Stefan T. festgehalten wurde, nicht für Mario K. begehbar wäre.

Es wäre nochmals interessant, genau zu erfahren, welche Übungen der Beschuldigte in seinem Box-Club durchgeführt hat. Der Trainer sagte vor Gericht aus, dass es eine Art Zirkeltraining gab, in dem der Beschuldigte Mario K. noch bis heute den Vereinsrekord hält.

Dr. Panos P. fragt erneut nach der Sprungfähigkeit des Beschuldigten und weist zugleich darauf hin, dass diese beim Gang durch den Sumpf nicht benötigt worden wäre. Auf dem Video ist keiner der Polizisten dabei zu sehen, wie er springt. Vielmehr hangeln die Beamten durch das Gelände, halten sich an umliegenden Sträuchern und Bäumen fest, um so ihre Standfestigkeit zu sichern. Auch die Nebenklägervertreterin von Thorsten H., Evelyn R., möchte vom Sachverständigen wissen, warum er sich so eindeutig festlegt, dass sich der Beschuldigte Mario K. für dieses Sumpfgelände nicht entschieden hätte, wenn er es doch schon, wie auch gerichtlich dokumentiert, im Jahr 2004 getan hat. Der Sachverständige möchte diesen Sachverhalt nicht beurteilen.

Dr. Panos P. hebt nochmals die Aussage des Sachverständigen hervor, wonach der Beschuldigte nach dessen OP infolge einer Schussverletzung sein Bein nicht mehr über 90 Grad hinaus beugen kann, und dass sich dieser Zustand auch nicht verbessern wird. Er merkt allerdings auch an, dass der Beschuldigte ja bereits 2004 in einem schwer zugänglichen Sumpfgebiet ein Versteck hatte, dort lebte und von dort aus seine Verbrechen beging.

Seine Frage an den Sachverständigen ist nun, ob man die Sportarten Tennis und Boxen Patienten empfehlen würde, die ein Krankheitsbild aufweisen, wie es der Beschuldigte hat. Dies verneint der Sachverständige, stellte jedoch fest, dass Mario K. in der Lage ist, Schmerzen zu tolerieren.

Die Anwältin Evelyn R. möchte vom Sachverständigen erfahren, in welchen Situationen man eine Beugung über 90 Grad benötigt. Hierzu gibt der Sachverständige keine konkreten Angaben. Er hält das Gelände für den Beschuldigten für ungünstig, ja sogar für unmöglich begehbar, weil die jeweilige Trittunterlage für den Beschuldigten nicht berechenbar ist.

Der Sachverständige ist fachlich für den Bereich Orthopädie zuständig, für den Bereich der Tätermotivation und Tatdurchführung ist er kein Sachverständiger. Natürlich kann man davon ausgehen, dass der Täter die Opfer-Insel hinreichend ausgekundschaftet und observiert hat. Der Täter hat in seiner Lösegeldforderung an das Opfer Stefan T. verlangt, dass das Lösegeld durch die Ehefrau und einen Gast der Familie, der innerhalb der letzten sechs Monate zu Besuch war, überbracht wird. Dies bedeutet, dass der Täter die Familie T. mindestens sechs Monate observiert hat. Daher ist auch davon auszugehen, dass die Opfer-Insel hinreichend vorbereitet worden ist. Die Erfahrung aus anderen Fällen zeigt, dass Täter hier auch entsprechende Generalproben durchführen. In diesem Fall hat der Täter eine mögliche Flucht des Opfers in seinen Planungen nicht vorgesehen und somit auch nicht die möglichen Fluchtwege entsprechend abgeklärt.

Die Nebenklägervertreter möchten nochmals wissen, in welcher Situation der Beschuldigte auf dem Fluchtweg des Opfers sein Bein über 90 Grad hätte beugen müssen. Der Sachverständige vertritt die Auffassung, dass es solche Situation gegeben hätte, kann sich aber aus der Erinnerung nach Ansicht des Videos an keine bestimmte erinnern. Der Verteidiger Axel W. unterstützt den Sachverständigen darin, sich nicht mehr an das vor zwei Stunden gesehene Video so detailliert erinnern zu können. Daher beanstandet er die Vorgehensweise der Nebenkläger.

Den Nebenklägern wiederum ist es insgesamt nicht plausibel, dass Mario K. Sportarten wie Tennis und Boxen durchführen, dass er auch seinen Beruf als Dachdecker ausüben, dass er nahezu täglich 100 bis 200 Kilometer mit dem Fahrrad fahren konnte, und dass er 2004 im nahezu tatgleichen unzugänglichen Sumpfgelände gelebt hat – aber, dass er ausgerechnet genau jene Strecke, die das Opfer vom Ablageort zum Knüppeldamm gegangen ist, nicht hätte gehen können. Ganz abgesehen davon, dass dieser Punkt ohnehin nicht für die Beurteilung wichtig ist, da der Täter diese Strecke sowieso nie gegangen ist.

Nach langem Hin und Her zwischen den drei Parteien (Verteidigung, Zeuge und Nebenkläger) stellt der Vorsitzende Richter dem Sachverständigen nun die entscheidende Frage: Wäre es dem Beschuldigten Mario K. möglich, in dem auf dem Video gesehenen Sumpfgelände eine Strecke über 100 Meter zu gehen, ohne dabei zu sterben? „Ja, das ist möglich“, antwortet der Sachverständige. Weiter fragt der Vorsitzende Richter den Sachverständigen, ob er dem Beschuldigten Mario K. empfehlen würde, den Beruf des Dachdeckers auch über mehrere Wochen hinweg auszuüben, was Prof. Dr. Bodo P. eindeutig verneint.

Der Sachverständige relativiert nun seine stundenlang vorgetragene Aussage, wonach das zu 100 Prozent nicht möglich gewesen wäre: „Natürlich ist es Mario K. irgendwie möglich, durch diesen Sumpf zu gehen.“

Auch auf die Frage, ob Mario K. aus einem Wasserloch, in dem er bis zum Bauch im Wasser steht, hinauskommen könnte, antwortet der Sachverständige mit „Ja“.

„Ist es überhaupt machbar?“ wird weiter gefragt. „Ja“, lautet die Antwort. Weiterhin fragt der Richter, welche Folgen für den Angeklagten nach einem 100 Meter langen Gang durch den Sumpf entstehen. Der Sachverständige teilt mit, dass der Beschuldigte Schmerzen bekommen, das Knie sich erwärmen und anschwellen würde. Weiterhin würde er in den nächsten Tagen eine Bewegungseinschränkung haben, was in etwa fünf Tage dauern könnte.

Nun möchte die Verteidigung, dass der Sachverständige eine Ortsbesichtigung an der Opfer-Insel durchführt. Hierzu stellt das Gericht eindeutig fest, dass der Sachverständige sich an den Beweisantrag gehalten, und die Fragen dieses Antrages eindeutig beantwortet hat. Damit wird der Zeuge am Nachmittag entlassen.

Das Gericht gibt schließlich noch zu Protokoll, dass ein neurophysiologisches Gutachten betreffend der Beine des Angeklagten Mario K. einzuholen ist. Der Beschuldigte erklärt sich damit einverstanden.

Bildquelle: Stefan Bisanz

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